Über das Begriffspaar „lehrseits“ und „lernseits“ wird der pädagogische Bezug in den Blick genommen, um für den bildenden Charakter von Lernerfahrungen zu sensibilisieren. Die Aufmerksamkeit liegt auf der wechselseitigen Beziehung und wird erst in der Interdependenz der Lernerfahrungen der Beteiligten erfahrbar Lernseitige Orientierung zeigt sich im Einlassen der Lehrpersonen auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler, zugleich aber auch im damit verbundenen eigenen Lernen. Lehren im Modus des Lernens betrachtet meint, taktvoll und responsiv handeln und in Beziehung zur Sache und zueinander sein. Darin liegt auch der Ausgangspunkt für inklusive Schule, denn Lernen ist ein Akt zutiefst menschlicher Entfaltung und persönlicher Entwicklung. Lernseitigkeit ist geprägt vom respektvollen pädagogischen Takt und zeigt sich in der Verantwortungsübernahme einer Lehrperson für das Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler und die Schaffung förderlicher Bedingungen für das gemeinsame Lernen. In der phänomenologisch orientierten Vignettenforschung werden lernseitige Erfahrungen aus dem schulischen Alltag erforscht und als „Klangkörper des Lernens“ erfasste prägnante pädagogische Texte für Aus- und Fortbildung verfügbar gemacht. (Schratz, Schwarz & Westfall-Greiter, 2012)
Im Interview mit Heidi Schrodt in klasse zwanzig zukunft Bildungsmagazin 250 Jahre ÖBV
Sinn, Einstellung und Haltung
Lernseitigkeit impliziert seitens der Lehrenden eine bestimmte Wahrnehmungsweise, die dazu führt, dass die Schülerinnen und Schüler die Entstehung von Sinn – beispielsweise im Übergang von einem lebensweltlichen zu einem fachlichen Wissen im Unterricht – nachvollziehen können. Diese Wahrnehmungsweise setzt einen Einstellungswechsel voraus und kann aufgrund von Gewohnheit als Haltung ausgebildet werden.
Professionsethik und Professionsbewusstsein
Lernseitigkeit erfordert von Lehrerinnen und Lehrern ein professionelles Wissen um die eigenen Grenzen und Möglichkeiten. Dieses muss in einer ethischen Grundhaltung bewusst gehalten werden, damit die Schülerinnen und Schüler nicht vorschnell als bestimmte festgeschrieben und alle ihre Handlungen im Lichte dieser Zuschreibungen interpretiert werden. Dies bedeutet ein Sich-Einlassen auf die leiblichen Artikulationen der Schülerinnen und Schüler und die Bereitschaft sich immer wieder aufs Neue von ihnen irritieren zu lassen.
Systemisches Wissen und Handeln
Lernseitigkeit beinhaltet systemisches Wissen und Handeln, für deren Aneignung die konkreten Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern Ausgangspunkt sind. In diesen bilden sich systemrelevante Bezugspunkte ab, die für die Irritation und Veränderung von traditionsgeprägten Systemen wie der Schule genutzt werden können.
Lernseitigkeit nimmt die Perspektive der Lernenden und den Aufforderungscharakter der Dinge ernst. Da Lernen nicht gesteuert und der Umgang der Schülerinnen und Schüler mit den Inhalten der Unterrichtsstunde nicht vorweggenommen werden kann, ist in einer lernseitigen Sichtweise ein personalisiertes Vorgehen erforderlich.
Kompetenzorientierung
Lernseitigkeit richtet sich an Kompetenzen aus, um diese als Lehrkraft im handelnden Umgang mit der Welt gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern zu erwerben. Dabei werden die Lernerfahrungen von einem (Vor-)Wissen hin zu unterschiedlichen Formen des Könnens in den Blick genommen. Kompetenzorientiert unterrichten bedeutet, die Schülerinnen und Schüler über den Lernzuwachs hinaus zu unterstützen, immer wieder neue Handlungsmöglichkeiten zu erproben.
Zugang zu Sache, Zugang zum Kind
Lernseitigkeit trägt den persönlichen Bezügen Rechnung, die Schülerinnen und Schüler zum jeweiligen Unterrichtsgegenstand haben. Lehrkräfte versuchen der Lerngeschichte jeder bzw. jedes Einzelnen auf die Spur zu kommen und beziehen Alltagstheorien der Lernenden mit ein.
Beziehungskultur
Lernseitigkeit fokussiert auf die Beziehung zwischen Lernen und Lehren, aber auch auf jene zwischen Lehrenden und Lernenden. Dabei zeichnen sich lernseitig verortete Lehrkräfte durch eine respektvolle Haltung der Wertschätzung und eine besondere Form der Sensibilität für wirkmächtige Erfahrungen der Scham aus.
Resonanzorientierung
Lernseitigkeit öffnet Lernräume für Resonanzen, die Antworten ermöglichen, welche die Lehrkraft nicht bereits parat hat und deshalb sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrkraft überraschen.
aus: E. Agostini, M. Schratz, E. Risse: (2018) Lernseits denken – erfolgreich unterrichten. Personalisiertes Lehren und Lernen in der Schule. AOL, S. 108.
In Anerkennung für Michael Schratz' Engagement für ein lernseitiges Bildungswesen in Österreich hat die Pädagogische Hochschule Niederösterreich einen Baum der Lernseitigkeit, einen Dreispitz-Ahorn, gepflanzt.